•  
  •  
Übergriffe

Wenn in der Öffentlichkeit über Übergriffe gesprochen wird, dann meist mit dem Bezug auf sexuelle oder körperliche Gewalt. Doch schauen wir mal genauer hin, wo in unserer Kultur des Umgangs miteinander finden überall Übergriffe statt.
Der Duden definiert einem Übergriff als einen «unrechtmässiger Eingriff in die Angelegenheiten, den Bereich o. Ä. eines anderen». Bevor wir über Grenzen und Grenzüberschreitungen sprechen, müssen wir erst mit der Diskussion über die Freiheit beginnen. Von Emanuel Kant stammt die Aussage: «Die Freiheit des Einzelnen endet dort, wo die Freiheit des Anderen beginnt». Wenn wir also über unsere Rechte und Freiheiten sprechen, müssen wir uns immer an den Rechten und Freiheiten des anderen orientieren und diese den unsrigen gleichsetzen. Wenn wir dies nicht mehr tun, dann sind wir dabei Grenzen zu überschreiten, also einen Übergriff zu tätigen. Hier gilt es allerdings zu beachten, nur weil uns ein Übergriff durch einen anderen in der Form, wie wir ihn gerade ausüben wollen, nichts ausmacht, heisst das noch lange nicht a) dass das kein Übergriff ist, oder b) dass dieser dem Gegenüber auch nichts ausmacht. Wenn wir uns für unsere Freiheit einsetzen wollen, dann gelingt das am wirkungsvollsten, wenn sich jeder von uns für die Freiheit des anderen einsetzt. Dann ist für aller Freiheit gesorgt. Denn dann sind wir im Modus der Fürsorge und des Gebens. Wenn alle in diesem Sinne handeln, herrscht Frieden auf der Welt, da alle Kriege und Kämpfe vorbei sind.

Aber kommen wir zurück zu unserem Alltag im Zusammenhang mit den subtilen alltäglichen Übergriffen, die institutionalisiert und somit normal sind.
Beurteilung und Bewertung ist einer der etabliertesten. Egal ob wir jemandem ein gutes oder ein schlechtes Zeugnis bzw. Urteil verpassen, ändert dies nichts an der Tatsache, dass wir uns über ihn erheben und ihn beurteilen. Wir verlassen damit die Augenhöhe und bringen das Gegenüber in eine Position, die ihm zeigt, ich bin mehr als du. Ich nehme mir die Kompetenz und das Recht heraus, über dich zu richten.
Verantwortung für andere übernehmen, ist auch sehr beliebt. Zum Beispiel bei Eltern gegenüber ihren Kindern mit der Aussage: „Du kannst das noch nicht, lass mich das machen.“ Oder unter Freunden, wo jemand einen vor Fehlern und schlechten Erfahrungen bewahren möchten. Mit ihren gut gemeinten (gefragten oder ungefragten) Ratschlägen und Warnungen sagen sie indirekt, du brauchst diese Erfahrung nicht, du kannst mit dem Ergebnis aus der Erfahrung nicht umgehen. Du bist nicht in der Lage zu erkenne, was das Richtige für dich ist. Das ist auch die Basis für sehr viel Hilfe, die geleistet wird, die nicht die Unterstützung und Stärkung des Gegenüber als Ziel hat, sondern auf Ungeduld, Besserwisserei, Konkurrenzdenken, Profilierungssucht, oder Misstrauen und Vorverurteilungen wurzelt. Damit wir dem Gegenüber die Möglichkeit zur eigenen Entwicklung und zum Wachstum geraubt. 
Ein weitere Form ist die Ausnutzung von Schwächen und Stärken. Wenn mich jemand lobt und damit meine Eitelkeit nutzt, um seine Ziele zu erreichen, ist das ein Übergriff. Er nutzt die Stärke meiner Handlung und die Schwäche meiner Eitelkeit, um mich für seine Zwecke zu manipulieren. Die schlimmere Form ist die Erpressung, wo die Schwäche der Abhängigkeit genutzt wird, welche auf Existenzangst basiert. In den Menschenrechten Artikel 23 ist das „Recht auf Arbeit“ verankert. Wir sind der Meinung jemand verteidigt hier unsere Rechte. Doch das findet nicht statt. Es handelt sich um einen Übergriff auf unsere Integrität, denn nur wer arbeitet, darf existieren. Ausser er hat einen sehr triftigen Grund, warum er das nicht kann. Welches dieser Grund ist, variiert von Kulturepoche zu Kulturepoche. Der Mensch an sich als Wesen, das ein Recht auf Leben hat, wird damit verleugnet und verneint und in der Folge auf seine Arbeitskraft reduziert. 
Mehrheitsdemokratie ist auch eine rechtlich verankerte Form eines Übergriffes. Entscheidungen, die andere treffen und für mich gelten, obwohl sie (im besten Fall) nur der Freiheit von einer Mehrheit dienen und nicht aller, sind ein typischer Übergriff, an den wir uns nicht nur gewöhnt haben, sondern den wir auch als wirklich Freiheit preisen und stolz darauf sind.  Abgesehen davon, dass Politik und demokratische Wahlen auf Versprechen basieren, die Politiker im Vorfeld abgeben , um damit unseren Hoffnungen und Ängsten zu erkaufen. Was wiederum eine Ausnutzung von Schwächen und Stärken ist und somit ein Übergriff.

Doch was ist die Lösung? Die Lösung liegt wie immer in uns selber. In jedem Einzelnen von uns. Die meisten werden nun an Schutz denken. Das ist in vielen Fälle die erste sinnvolle Reaktion. Doch Schutz bedeutet Isolation, Misstrauen, aus der Verbindung gehen und sich vom Gegenüber abwenden. Oder wir beginnen um unseren Raum zu kämpfen, was wiederum sehr schnell zu Übergriffe von uns auf andere führt.  Damit nähren wir einmal mehr das Energiefeld der Übergriffe. Wichtig ist Selbstreflektion. Wieso konnte der Übergriff stattfinden? Wo habe ich Hand geboten? Welche Schwäche von mir in Verbindung mit welcher Stärke konnte hier ausgenutzt werden? Wo gehe ich nicht in die Eigenverantwortung, sondern verharre in der Opferrolle und überlasse anderen den Raum. Wo erhebe ich andere über mich und ermögliche ihnen, über mich zu urteilen? Wo erhebe ich mich über andere und begebe mich somit in das Feld der Überheblichkeit?

Immer daran denken, die Kraft der Menschheit liegt in der Verbindung miteinander und der gegenseitigen echten Stärkung, die keine Erwartung im Gepäck hat. Denn da wo die Freiheit des anderen beginnt, hört meine auf. 

Dienstag, den 22. März 2016

Sieglinde Lorz